Seeunfall der Bark „Felix Mendelssohn"
Spruch des Seeamts zu Rostock vom 7. Juli 1893, betreffend den Seeunfall der Bark „Felix Mendelssohn“ von Rostock.
Der Spruch des Seeamts lautet:
Der Unfall, von welchem die Bark „Felix Mendelssohn“ im December 1892 auf der Reise von Pensacola nach Ostende betroffen worden, und welcher nicht nur den Verlust des Schiffes, sondern auch den Tod zweier zur Besatzung desselben gehörigen Personen, des Zimmermanns H. Kiehns aus Rostock und des Matrosen Fritz Hahn aus Bärendorf, zur Folge gehabt hat, ist lediglich auf elementare Ereignisse, orkanartigen Sturm und hohe See zurückzuführen.
Den Schiffer Fretwurst und die Steuerleute Friedrich Beyer und H. Fretwurst trifft kein Verschulden an dem Unfall. Das Verhalten der Besatzung der in Maryport beheimatheten englischen Bark „Gladstone“, Schiffer John Farrel, durch deren Boot die überlebende Besatzung der Bark „Felix Mendelssohn“ unter schwierigen und gefährlichen Umständen abgeborgen ist, und welche die Schiffbrüchigen demnächst in Queensborough gelandet hat, verdient hohe Anerkennung.
Entscheidungsgründe.
- Die stattgehabte Hauptverhandlung hat zu folgenden thatsächlichen Feststellungen geführt. Am 19. November 1892 verließ die in Rostock beheimathete Bark „Felix Mendelssohn“, Unterscheidungs-Signal QBKD, ein im Jahre 1866 zu Bremerhaven aus Eichenholz erbautes, zu 2614,9 cbm = 923,05 britischen Register-Tons Netto-Raumgehalt vermessenes Schiff, Pensacola in Florida, um mit einer Ladung Pitchpine Holz nach Ostende zu segeln. Geführt ward die Bark vom Schiffer Friedrich Fretwurst aus Daendorf, welcher als Rheder mit ³¹⁄₁₀₀ an ihr betheiligt und mit seinen Parten versichert war. Die Besatzung bestand mit Einschluß des Schiffers und der beiden geprüften Steuerleute Friedrich Beyer aus Ribnitz und H. Fretwurst aus Dierhagen, im ganzen aus 14 Personen, von denen 3 Nichtdeutsche waren.
Die Ladung war ordnungsmäßig von Stauern verladen und füllte den ganzen Raum bis unter das Deck aus. Ein Theil derselben war unter dem Doopdeck verstaut. Das Holz war überall durch Keile gehörig befestigt. Die Ausrüstung der Bark war vollständig und gut. Die letztere selbst befand sich in einem durchaus seetüchtigen Zustande. Sie hatte bei Büreau Veritas am 4. Februar 1890 die Klasse: +⁵⁄₆ A.1.1. auf 6 Jahre erhalten und sich auf ihrer vorletzten Reise von Harre nach Pensacola in Ballast, nachdem sie in Havre unter Aufsicht des Veritas-Experten mit einem neuen Großmast versehen und oberhalb des Kupferbeschlags abgedichtet war, als vollkommen seetüchtig und sehr dicht erwiesen. Die Reise verlief bis zum 21. December bei meist gutem Wetter ohne bemerkenswerthe Ereignisse. An dem genannten Tage, an welchem die Bark nach Besteck auf 39° 37′ Nordbreite und 40° 8′ Westlänge angelangt war, steigerte sich der Wind, welcher schon am 20. December sturmartig aus WSW geweht hatte, zu einem Orkan aus gleicher Richtung. Die See lief sehr hoch und wild durcheinander. Die Bark lenzte vor den beiden Untermarssegeln.
Um die Wucht der über das Schiff brechenden Seen abzuschwächen, hatte Schiffer Fretwurst zwei Oelsäcke ausbringen lassen; diese Maßregel erwies sich jedoch als erfolglos. Mittelst der Windmühlen-Pumpe gelang es immer noch, das Schiff lenz zu halten. Nachmittags 4 Uhr 30 Minuten ward die Schanzkleidung vom Poopdeck fortgewaschen und etwa eine Stunde später lief das Schiff aus dem Ruder und drehte über Backbordbug bei, so daß es ungefähr Süd anlag, mit der Leeregeling beständig unter Wasser. Die Sturzseen brachen fortwährend über das Schiff weg. Bald darauf wehten die Flügel der Mühlenpumpe ab. Alle Mann traten jetzt an die großen Handpumpen, jeden Augenblick in Gefahr, abgespült zu werden; die Pumpen schlugen jedoch nicht lenz. Um 6 Uhr abends riß eine Sturzsee die hinten in den Davids hängenden beiden Boote fort, so daß der Besatzung nur noch ein vorn liegendes größeres Boot übrig blieb. Auch mehrere Stützen und ein Theil der Regeling am Poopdeck wurden fortgebrochen und das Voruntermarssegel, welches man festzumachen versuchte, zerriß.
Gleich darauf nahm eine Sturzsee den Eingang zur ersten Kajüte fort und zertrümmerte das Deckfenster der zweiten Kajüte. Gleichzeitig bemerkte man, daß eine an Backbordseite befestigte Reservespiere losgerissen war. Man versuchte sofort, dieselbe wieder fest zu bekommen oder über Bord zu bringen; beides mißlang aber, und die Spiere rollte nunmehr mit solcher Gewalt auf dem Deck hin und her, daß die Leute flüchten mußten, um nicht von ihr zerschmettert zu werden. Da bei dem Hinundherarbeiten der Spiere durch diese die Backbordkettenklüse aufgerissen wurde und der Versuch, das so entstandene Loch von etwa 1 ½ Fuß im Durchmesser mit einem Segel zu verstopfen, mißglückte, so füllte sich die Bark nunmehr schnell mit Wasser und drohte abends etwa 8 Uhr 30 Minuten zu kentern. Um dieser Gefahr zu begegnen, ließ der Schiffer den Besahn- sowie den Großmast kappen und die Pardunen der Stenge des Fockmastes wegschlagen, welche sodann über Bord fiel und den Klüverbaum mitnahm. Die Bark richtete sich infolgedessen wieder etwas auf, lag aber mit der Backbordseite noch immer unter Wasser.
Die Nacht zum 22. December war fürchterlich. Der Sturm tobte mit ungeschwächter Kraft weiter und die Sturzseen brachen in schneller Aufeinanderfolge über dem Wrack hin. Von der Besatzung hatten 9 Mann in dem Eßzimmer unter dem Poopdeck Schutz gefunden; sie mußten aber gegen Morgen, weil dort das Wasser einzudringen begann, unter die im Poopdeck verstaute Ladung kriechen, wo sie den Tag abwarteten. Die übrigen 5 Leute, Zimmermann H. Kiehns aus Rostock, die Matrosen Wilhelm Palm und Paul Arppe ebendaher, der Matrose Fritz Hahn aus Bärendorf bei Bochum und der Junge Peter Sörensen aus Aalborg in Dänemark, saßen in den Fockwanten, wo sie sich festgeklammert hatten und wo die Sturzseen fortwährend über sie wegbrachen.
Von ihnen gelangten am Vormittage des 22. December, als der Sturm ein wenig nachgelassen hatte, Palm, Arppe und Sörensen glücklich zu ihren Genossen unter dem Poopdeck. Matroſe Hahn versuchte, ihnen dorthin zu folgen; er kletterte aus den Wanten auf das Mitteldeck hinunter, sank dort aber, weil ihm die Beine erfroren waren, in die Kniee und ward nun von einer überkommenden Sturzsee von Deck gewaschen. Die Matrosen Reincke und Arppe sahen ihn noch im Wasser nach einer dort treibenden Raa eines der gekappten Masten greifen; dann verschlangen ihn die Wellen und er kam nicht wieder zum Vorschein. Versuche zu seiner Rettung wurden seitens der überlebenden Besatzung als bei deren eigenen hülflosen Lage und der noch immer sehr hohen See völlig aussichtslos unterlassen. Zimmermann Kiehns, welcher zuletzt in den Wanten geblieben war, fiel bald darauf vollständig erstarrt aus der Takelage auf das Deck nieder, von wo ihn, wie der Segelmacher Theodor Schröder sah, die nächste Sturzsee durch die bereits vom Wasser aufgesprengte Vorderluke in den Laderaum schleuderte.
In den letzteren ward seine Leiche drei Tage später aufgefunden. Sie war so fest zwischen den Brettern der Ladung eingeklemmt, daß man sie nicht herauszuziehen vermochte und bei der am 27. December erfolgenden Abnahme der noch am Leben befindlichen 12 Schiffbrüchigen auf dem Wrack zurücklassen mußte. Am 23. December beruhigten sich Wind und See etwas mehr. Wie sich jetzt zeigte, war das Deck an Backbordseite bereits aufgebrochen und die Decksbalken waren etwa 3 Fuß aus ihrer Lage gekommen. Die Bark war vollständig mit Wasser angefüllt und trieb auf ihrer Ladung.
Von dem Proviant konnte die überlebende Besatzung nur einige Flaschen Wein, etwas Fleisch, sowie eine kleine Quantität Reis und Mehlbergen. Brot und Wasser fehlten ganz. Da es aber in der Nacht vom 24/25. December regnete, stillten die Schiffbrüchigen den bereits unerträglich gewordenen Durst dadurch, daß sie die Regentropfen aufsogen; auch gelang es ihnen noch, etwa 2 Liter Regenwasser für den späteren Bedarf zu sammeln. Obwohl die Schwefelhölzer sämmtlich durch Nässe unbrauchbar geworden waren, glückte es ihnen am 26. December doch, auf dem Poopdeck ein Feuer anzumachen, welches sie dadurch entzündeten, daß sie mit Petroleum getränktes Werg mit einem Revolver in Brand schossen.
Am 27. December nahmen Wind und See wieder erheblich zu. Am Mittag dieses Tages sichteten die Schiffbrüchigen in NW eine ostwärts steuernde Bark, welche das Wrack indeß nicht beachtete. Gegen 6 Uhr 30 Minuten abends kamen die Seitenlichter eines andern Schiffes in Sicht. Die Schiffbrüchigen machten Nothsignale mit Flackerfeuer, worauf das fremde Schiff, die in Maryport beheimathete englische Bark „Gladstone“, Schiffer John Farrel, beilegte, die Segel kürzte und auf die „Felix Mendelssohn“ zu hielt. Bald darauf erschien denn auch in Lee der letzteren das mit 6 Personen benannte Rettungsboot der „Gladstone“, barg die sämmtlichen 12 Schiffbrüchigen und zwar zuerst 6 und dann wiederum 6, unter letzteren den Schiffer und die beiden Steuerleute glücklich ab und brachte sie in zweimaliger Fahrt an Bord der englischen Bark, auf welcher sie die liebevollste Aufnahme und Verpflegung fanden und von deren Schiffer sie am 23. Januar 1893 in Queensborough gelandet wurden.
Die Abbergung war eine überaus schwierige, da sich das Wrack inzwischen mit der unter Wasser liegenden Seite nach Luv gewandt hatte, so daß die Schiffbrüchigen alle über die hohe Schiffswand weg in das Boot springen mußten. Sie war aber auch für die Bootsmannschaft mit großer Lebensgefahr verbunden. Denn die See war immer noch sehr hoch und brechend, der Abend dunkel und die Belastung des Bootes eine verhältnismäßig starke, so daß dasselbe viel Wasser übernahm und leicht hätte vollschlagen und sinken können. Das Schiffsjournal ist nicht geborgen worden. Die Kajüte, in welcher Schiffer Fretwurst es in einer Tischschublade aufbewahrte, lief schon am Abend des 21. December schnell voll Wasser, wodurch ein Betreten derselben lebensgefährlich ward. Auch würde es nichts genutzt haben, es von seinem Aufbewahrungsort zu entfernen, da es auf dem ganzen Schiffe keinen trockenen Platz mehr gab, an dem man es hätte niederlegen können.
- Wie sich aus dem unter I festgestellten Thatbestande ohne weiteres ergiebt, ist der vorliegende betrübende Unfall lediglich auf die im Spruche benannten elementaren Ereignisse zurückzuführen. Der tagelang andauernde Kampf des Schiffes mit der sturmgepeitschten See hatte für dasselbe derartige Beschädigungen zur Folge, daß es, nachdem die Masten gekappt worden, zum völligen Wrack ward, welches nur noch auf der Ladung treibend, ein Spielball der Wellen war. Und wie die Bark selbst, so sind auch die in Spruche namentlich aufgeführten beiden zur Bemannung derselben gehörenden Seeleute, von denen der eine abgespült, der andere in die Vorderluke geschleudert wurde, und welche beide hierbei ihren Tod fanden, den Sturzwellen zum Opfer gefallen.
Die Frage, ob etwa ein schuldhaftes Verhalten des Schiffers oder der Steuerleute zu dem Eintritt oder den Folgen des Unfalls mit beigetragen habe, konnte vom Seeamt ohne Bedenken verneint werden.
Zunächst muß im Hinblick auf die Klassificirung der Bark, auf die in Havre unter Aufsicht des Veritas-Experten vorgenommenen Reparaturen sowie darauf, daß sie sich während ihrer vorletzten Reise durchaus dicht gehalten hat, angenommen werden, daß sie bei Beginn ihrer letzten Reise noch vollkommen seetüchtig gewesen ist, und jedenfalls gereicht es dem Schiffer nicht zum Vorwurf, wenn er, von ihrer vollen Seetüchtigkeit überzeugt, kein Bedenken trug, mit ihr die vorhabende weite Reise anzutreten.
Die Ladung war in üblicher Weise und sorgfältig verstaut, der Tiefgang des Schiffes, welches noch 6 bis 7 Fuß Auswässerung hatte, kein übermäßiger, die Ladung selbst aber eine sehr günstige. Als dann die infolge des schweren Lecks im Backbordbug halb voll gelaufene Bark zum Kentern lag, blieb, um letzteres und damit den sichern Untergang von Schiff, Ladung und Besatzung abzuwenden, nichts übrig, als die Masten zu kappen, damit sich die in Lee bereits mit der Regeling in Wasser liegende Bark wenigstens in etwas wieder aufrichte, was denn auch erreicht ward. Den im erstarrten Zustande abgespülten Matrosen Hahn konnte die übrige Besatzung lediglich seinem Schicksal überlassen. Jeder Rettungsversuch war bei dem schweren Wetter und der eigenen hülflosen Lage der übrigen Schiffbrüchigen ausgeschlosen.
Ebenso war es den unter dem Poopdeck Versammelten der fortwährend über das Deck weg brechenden Sturzseen halber unmöglich, auf das Vorderschiff zu gelangen, um sich nach dem in die Vorderluke geschleuderten Zimmermann Kiehns umzusehen. Daß das Verlassen des Wracks am 27. December vollauf gerechtfertigt und kein verfrühtes war, bedarf kaum der Erwähnung. Die nur noch auf der Ladung treibende Bark war bereits im Aufbrechen begriffen; ihre völlige Zertrümmerung konnte nur noch eine Frage der Zeit sein und hätte sich den Schiffbrüchigen nicht eine baldige Gelegenheit zur Abbergung geboten, würden sie unbedingt sämmtlich das Schicksal ihres Schiffes haben theilen müssen. Wenn Schiffer und Steuerleute das Journal nicht mit geborgen haben, so findet das in den begleitenden Umständen seine ausreichende Entschuldigung und es wird denselben ein Vorwurf um so weniger daraus gemacht werden können, als es ohnehin wohl kaum möglich gewesen wäre, das Journal aus der vollgelaufenen Kajüte heraus zu bekommen. Was nun endlich das Verhalten der englischen Bark „Gladstone“ betrifft, so verdient dasselbe nach Ansicht des Seeamts die höchste Anerkennung.
Für die „Gladstone“ war es schon an sich schwierig und gefahrvoll, bei dem herrschenden schlechten Wetter ihre Reise zu unterbrechen und sich der „Felix Mendelssohn“ zu nähern, um dieser Hülfe zu bringen. Vor allem aber muß der Mannschaft des von ihr entsandten Bootes das wärmste Lob gespendet werden. Denn die Fahrten dieses Bootes, welches sich in dunkler Nacht und einer noch immer sehr hohen und brechenden See zweimal zwischen den beiden Schiffen hin und her bewegte, waren für dessen Insassen mit großer Lebensgefahr verbunden. Das Boot konnte nicht nur leicht vollschlagen und sinken, sondern es war weiter nur einem glücklichen Zufall beizumessen, wenn dasselbe bei der Abnahme der Schiffbrüchigen und deren Uebernahme an Bord der „Gladstone“ nicht von den Seen gegen die Schiffswand geworfen und zerschmettert ward. Jedenfalls hat die Mannschaft des Bootes durch ihr mannhaftes Verhalten den Beweis aufopfernder Nächstenliebe und seltenen Muthes geliefert, und das Seeamt kann nur lebhaft wünschen, daß sowohl ihr wie dem Führer der „Gladstone“ für das von ihnen an 12 deutschen Seeleuten glücklich vollführte schwierige Rettungswerk von höchster Stelle aus eine lobende Anerkennung zu theil werde.