Seeunfall der Brigg „Fanchon"
Spruch des Seeamts zu Rostock vom 4 April 1879 und Entscheidung des KaiserIichen Obesesamt vom 10. Juli 1879, betreffend den Seeunfall der deutschen Brigg „Fanchon“ von Rostock.
Schiff auf dem Riff von Kap Domesnees beim Versuch, dasselbe zu umsegeln, gestrandet, kondemnirt und als Wrack verkauft.
In der Untersuchungssache wegen Strandung der Rostocker Brigg „Fanchon“ hat das Seeamt den folgenden Spruch abgegeben:
- die in der Nacht vom 7./8. November 1878 bei Kap Domesnees erfolgte Strandung der Brigg ist wesentlich einer irrthümlichen Schätzung der Entfernung des Landfeuers vor Domesnees und einer Stromversetzung beizumessen, jedoch
- Theilweise dadurch mit herbeigeführt, dass der Kapitän eine unzulängliche Karte benutzte und sich über die Sichtweite des genannten Feuers nicht gehörig infomirt hatte.
- Den Steuermann trifft der Vorwurf, dass er von einer eigenmächtigen Veränderung im Kurse, ohne welche der Unfall vermieden worden wäre, den Kapitän nicht sofort benachrichtigt hat.
- Die Führung des Schiffsjournals entspricht nicht allenthalben den gesetzlichen Anforderungen.
- Der gegen den Schiffer und den Steuermann gerichtete Antrag des Reichskommissars auf Entziehung der Konzession zur Ausübung des Schiffer- resp. Steuermannsgewerbes wird abgelehnt.
Entscheidungsgründe.
- Die Brigg „Fanchon“, Unterscheidungs-Signal MDFR, war in Rostock heimathsberechtigt und dort im Jahre 1862 vom Schiffsbaumeister Tesdorf aus Eiche- und Buchenholz erbaut. Sie war zu 741,2 Kubikmeter - 261,63 Register Tons vermessen und wurde seit 1873 von dem Kapitän Voß aus Daendorf geführt. Derselbe ist 33 Jahre alt, hat seine Schifferprüfung für grosse Fahrt im Jahre 1871 zu Wustrow bestanden und war zu etwa ¼ Eigner des Schiffes. Er hatte seine Parten bei der Rostocker Schiffsversicherungs-Gesellschaft zu 9.000 M versichert, während die übrigen Rheder meistentheils unversichert waren. Der Korrespondent-Rheder bezeug ihm, dass er sich bisher als tüchtiger und zuverlässiger Schiffer bewährt habe.
- Am 7. November 1878 ging die Brigg mit einer nach West-Hartlepool bestimmten Ladung kleiner, bearbeiteter Hölzer von Riga aus in See. Die Schiffsbesatzung bestand ausser dem Kapitän aus dem Steuermann Hans Peter Voss aus Daendorf, dem Zimmermann Rudolph Lange, einem Koch, drei Matrosen und drei Schiffsjungen. Der 51 Jahre alte Steuermann Voss hat sein Steuermanns Examen vor etwa 26 Jahren bestanden und seitdem fast ununterbrochen, darunter über 11 Jahre auf der „Fanchon“ gefahren. Kapitän Voss giebt ihm das Zeugniss ganz besonderer Brauchbarkeit und Zuverlässigkeit.
An Bord befand sich eine dänische Ostseekarte von 1869, welche Kapitän Voss im Jahre 1873 gekauft haben will. Dieselbe ist von ihm für die Reise im Rigaer Busen benutzt worden und liegt dem Seeamt vor. Ausserdem sollen nach seiner Versicherung noch mehrere andere Ostseekarten, welche er indess nicht näher hat bezeichnen können, und ein englisches Leuchtfeuerbuch unter den Schiffspapieren vorhanden gewesen sein.
- Der Verlauf der Reise hat sich nach dem geretteten Schiffsjournal der eidlich erhärteten Verklarung des Kapitäns und gesammter Mannschaft vor dem Magistrat zu Windau und den hiesigen Vernehmungen des Kapitäns, des Steuermanns und des Zimmermanns in Beibehalt der Mittheilungen des Kaiserlich deutschen Konsulates zu Windau nachstehendermaassen gestaltet.
Es war Morgens etwa 8 Uhr, als die Brigg den Hafen von Riga verliess. Sie legte bei NW-Kurs und mässiger Briese aus SSW bis Mittags 12 Uhr 13 Seemeilen zurück. Um 3 Uhr Nachmittags wurde Messa-Leuchtthurm in SW bei 5 Meilen Abstand gepeilt. Da. Das Wetter stürmisch geworden war, so wurden im Verlauf des Nachmittags alle Segel bis auf die beiden Unter-Marssegel und das Vorstagsegel weggenommen. Abends 8 Uhr kam das Feuer von Domesnees in NNW in Sicht und will der Kapitän, weil in seinem, leider nicht mit geborgenen Leuchtfeuerbuche dessen Sichtweite auf 12 Seemeilen verzeichnet gewesen, angenommen haben, dass er 12 Meilen von demselben entfernt sei, wie er denn auch hiernach den damaligen Standort des Schiffes auf der von ihm benutzten Karte abgesetzt hat. Von 9 Uhr an halste man von einem Bug über den andern, das Feuer von Domesnees in Sicht. Das Wetter wurde immer schlechter, die Luft war, wenn auch meistentheils feuersichtig, so doch dick, mit Regen und Schneeböen, und beschloss daher der Kapitän, welcher von 8 bis 12 Uhr die Wache hatte, während der Nacht unter Land zu bleiben und erst nach Tagesanbruch um Kap Domesnees herum zu gehen.
Er theilte dies dem Steuermann mit, welcher um 12 Uhr mit dem Zimmermann, einem Matrosen und zwei Schiffsjungen die Wache antrat und nachdem er das Feuer, dessen Abstand er damals auf 9 Meilen schätzte, in NWzN gepeilt, auch das Resultat der Peilung und der Lothung, welche 21 Faden ergab, gemeinschaftlich mit dem Steuermann auf der Karte abgesetzt hatte, ging er zu Koje und übernahm nun der Letztere das: Kommando. Die Brigg lag nach lag nach West über Steuerbord an und wurde das Feuer in nordwestlicher Richtung gesehen, kam aber, je länger der westIiche Kurs verfolgt wurde, desto mehr nördlich zu stehen, wie der Steuermann in der Hauptverhandlung zugestanden hat.
Inzwischen war die See aus SO sehr gross geworden und angeblich befürchtend, dass der bisherige SW-Wind nach, SO umspringen und dadurch die Lage des Schiffes gefährdet werden können, beschloss der Steuermann, nach Nord abzuhalten, um so das Riff vor dem Winde frei zu passiren und auf der Westseite desselben die Reise fortzusetzen.
Es war damals 1½ Uhr Morgens. Das Feuer schätzte er auf 7 Meilen Entfernung, das Loth, welches er immer im Gange gehalten, zeigte 15 Faden Wasser. Als der Brigg ein nördlicher Kurs gegeben war, stand, wie er versichert, das Feuer 2 bis 3 Kompass-Striche an Backbord, also in NNW. Der Zimmermann Lange dagegen hat in der Hauptverhandlung ausgesagt, dasselbe sei, nachdem der nördliche Kurs eingeschlagen worden, gerade voraus, zuweilen auf Backbord-, zuweilen auf Steuerbord-Seite gewesen, aber er will sich der Vorgänge jener Nacht nicht mehr genau erinnern und insbesondere nicht einmal mit Bestimmtheit sagen können, ob überall der Kurs nach Nord verändert worden ist oder nicht. Als die Brigg etwa ¼ Stunde vor dem Winde gesegelt hatte, Iiess der Steuermann, um mehr Fahrt zu machen und leichter um das Riff zu kommen, das Focksegel beisetzen, und als dies geschehen war, begab er sich zur Kajüte, um den Kapitän von seinen Anordnungen in Kenntniss zu setzen. Allein noch ehe er dieselbe erreicht hatte, stiess die Brigg zweimal durch und stand gleich darauf fest. Sie war auf dem an der Nordspitze von Kap Domesnees befindlichen Riff gestrandet. Der Kapitän war gleich von dem ersten Stoss erwacht, kam sofort an Deck und übernahm das Kommando. Er Iiess das Steuer Backbord legen, die Deckslast erst theilweise, dann ganz werfen und nach Umständen mit den Segeln manövriren, um vom Riff abzukommen, jedoch vergeblich.
Denn eine aus SO laufende starke Strömung, deren Vorhandensein in der Strandungsnacht vom deutschen Konsulat zu Windau ausdrücklich bestätigt ist, warf den Kopf der Brigg immer wieder nach NW herum und trieb die letztere trotz des starken aus SSW wehenden Windes immer weiter auf das Riff hinauf. Die Peilung der Pumpe ergab anfangs nur wenig Wasser im Raum. Dasselbe stieg jedoch schnell und hatte Morgens 6 Uhr bereits eine Höhe von 7 Fuss erreicht. Um das Stossen der Brigg durch das Gewicht des Wassers zu vermindern, untersagte der Kapitän das Pumpen und um den Schiffskörper mehr zusammen zu halten, liess er die Masten kappen. Bei Tagesanbruch kamen zwei Rettungsboote von Domesnees, welche die ganze Besatzung der „Fanchon“ mit dem grössten Theile ihrer Effekten bargen. Da die See auch in den nächsten Tagen sehr hoch ging, so scheiterten alle Versuche, die Brigg abzubringen, welche nun allmählich zerschellte und am vierten Tage nach der Strandung kondemnirt wurde. Der Verkauf ergab für Schiff und Ladung 720 Rubel, für Takelage und sonstiges Inventar 2.045 Rubel.
- Das Riff bei Kap Domesnees erstreckt sich von der Nordspitze des letzteren in nördlicher Richtung fast drei englische Meilen weit in die See hinein. Nach der vom Kapitän Voss benutzten Ostseekarte von 1869 verläuft es sichelförmig in einer durchschnittlichen Breite von etwa ½ Meile. In Wirklichkeit aber ist es, wie eine dem Seeamte vorliegende neuere schwedische Karte der nördlichen Ostsee mit dem Rigaer Busen von 1878 deutlich erkennen lässt, erheblich breiter und springt östlich gut eine Meile weiter vor, als man nach der gedachten Karte von 1869 annehmen sollte. Auf der Nordspitze desselben befindet sich, wie dem Seeamte von dem Kaiserlich deutschen Konsulate zu Windau mitgetheilt ist, ein provisorischer Leuchtthurm, dessen Feuer etwa 40 Fuss hoch angebracht und bei klarer Luft gut 14 Werst oder acht Meilen weit sichtbar ist. Früher waren auch am Lande zwei Feuer, welche noch auf der von Kapitän Voss benutzten Karte verzeichnet stehen, in Wirklichkeit jedoch seit mehreren Jahren eingegangen sind, zum grossen Leidwesen der Schiffer, denen sie einen sicheren Anhalt boten.
Das Riff bei Domesnees zählt zu den gefährlichsten der Ostsee. Einmal dort aufgelaufene und leck gesprungene Schiffe sind nach Aeusserung des Konsulats zu Windau des Treibsandes halber, aus welchem dasselbe besteht, nicht wieder abzubringen und eine Bergung ist allein dann möglich, wenn ein Schiff nur leicht gestossen hat und nicht leck gesprungen ist, so dass es durch Werfen der Ladung wieder flott werden kann.
- Seitens des Reichskommisars ist gegen den Kapitän und den Steuermann der Antrag auf Entziehung der Befugnis zur Ausübung des Schiffer- bezw. Des Steuermanngewerbes nach Massgabe des & 26 des Reichsgesetzes vom 27. Juli 1877, betreffend die Untersuchung von Seeunfällen, gestellt und folgendermassen begründet worden:
- Der Schiffer Voss hätte während der Strandungsnacht an Deck bleiben müssen, da es stürmisches Wetter, bedeckte Luft und somit die Lage des Schiffes in der Nähe eines weit vorspringenden Riffes eine gefährliche gewesen sei, eine Verpflichtung, welcher er sich um so weniger hätte entziehen dürfen, als er erst Tags vorher den Hafen verlassen und mithin noch nicht habe ermüdet sein können. Die Lage des Schiffes aber sei deshalb eine gefährliche gewesen, weil die Peilungen Nachts bei dicker Luft, nach nur einem Feuer, sehr misslich sein mussten und der Schiffer sei sich dessen anscheinend auch bewusst gewesen, da er Nachts 12 Uhr bei der Eintragung in das Journal den Abstand vom Feuer garnicht angegeben habe, vermuthlich, weil er zweifelhaft darüber gewesen sei. Habe er nun darin, dass er nicht an Deck geblieben, gefehlt, so müsse er auch für den Unfall verantwortlich gemacht werden, wenn derselbe überall vermeidlich gewesen wäre. Das Letztere sei aber unzweifelhaft der Fall, da der aus SSW kommende kräftige Wind sehr günstig gewesen und trotz gewesen und es trotz der südöstlichen Strömung ermöglicht hätte, das Schiff fern vom Riff in freies Wasser zu bringen.
Auch die mangelhafte Führung des Journals falle dem Schiffer mit zur Last. In demselben seien nämlich weder Länge, noch Breite, noch Wasserstand bei den Pumpen, noch die beim Kreuzen eingehaltenen Kurse angegeben und der Eintrag vom 7. November Nachmittags 3 Uhr, „peilten Messa-Feuerthurm SW 15 M. Abstand“, sei entschieden falsch, insofern der Abstand in Wirklichkeit nur fünf Meilen betragen haben könne. - Steuermann Voss habe den Unfall durch seine unrichtigen Manöver direkt verschuldet. Als das Wetter stürmischer wurde, eine hohe See aus SO kam, die Luft dicker wurde und somit die Abschätzung der Entfernung vom Feuer erschwerte und als er in Folge dessen ½ Stunde vor Strandung es für nöthig hielt, den Kurs zu ändern, da sei es seine Pflicht gewesen, den Schiffer zu wecken und nicht selbst eine Verantwortung zu übernehmen, der er nicht gewachsen gewesen sei, um so mehr, als ihm der Schiffer erhebliche Veränderungen im Kurse ausdrücklich untersagt habe. Nicht durch irrthümliche Schätzung des Abstandes, sondern durch ungenügende Beobachtung der Lage des Feuers sei die Strandung verursacht. Vor Allem sei es darauf angekommen, dass nicht gerade auf das Feuer losgesteuert wurde; dasselbe habe immer in westlicher Lage vom Schiffe bleiben müssen und nicht nördlich voraus gesehen werden dürfen, denn dann sei das Schiff in unmittelbarer Nähe des Landes und des Riffes gewesen. Dass aber letzteres dennoch der Fall gewesen sei, habe der Zimmermann Lange bezeugt. Die Strömung aus SO werde zur Strandung wenig beigetragen haben und könne jedenfalls bei dem starken Winde aus SSW dieselbe nicht wesentlich auf sie zurückgeführt werden.
Endlich treffe auch die Schuld der mangelhaften Journalführung den Steuermann mit. In der ihnen auf ihr Ansuchen hiergegen gestatteten schriftlichen Vertheidigung haben ausgeführt:
- Der Schiffer Voss.
Um 8 Uhr Abends habe er auf Grund seines Leuchtfeuerbuches die Entfernung des damals zuerst am Horizont erscheinenden Feuers zu 12 Meilen angenommen. Von da an habe er in kleinen Schlägen gearbeitet, das Loth im Gange gehabt und wenn er landwärts gehend eine Tiefe von 15 bis 12 Faden gefunden, wieder gehalst und seewärts abgehalten. Er habe nämlich die Nacht über unter Land bleiben und erst mit Tagesanbruch das Riff passiren wollen. Seiner Ueberzeugung nach sei für Schiff und Mannschaft keinerlei Gefahr vorhanden gewesen, und in diesem guten Glauben habe er, als um 12 Uhr seine Wache abgelaufen gewesen, seinem erfahrenen und zuverlässigen Steuermann, nachdem er mit diesem zusammen das Feuer in NWzN gepeilt, den Abstand auf 9 Meilen berechnet, eine Tiefe von 21 Faden gelothet und das gefundene Resultat auf der Karte abgesetzt, das Kommando übergeben. Dabei habe er denselben angewiesen, sich gleichfalls die Nacht hindurch unter Land zu halten und dann habe er sich zur Ruhe begeben.
Dass das Feuer nur ein provisorisches und auf 8 Meilen sichtbar gewesen, habe er nicht gewusst, vielmehr nach seinem Leuchtfeuerbuche dessen. Sichtweite auf 12 Meilen annehmen müssen. Ebenso habe er von der starken Strömung aus SO vor der Strandung keine Kenntniss gehabt. Seine Peilungen und Distanzen-Berechnungen hätten also aus diesem doppelten Grunde nicht richtig sein können. Während er sich um 8 Uhr 12 Meilen und um 12 Uhr 9 Meilen vom Feuer entfernt geglaubt habe, sei er zu beiden Zeiten demselben faktisch um 4 Meilen näher gewesen. Hätte er dies gewusst, so würde er allerdings an Deck geblieben sein. Dass die Strandung bei dem kräftigen Winde aus SSW sehr wohl zu vermeiden gewesen wäre, gebe er zu, denn die Brigg würde, wenn sie auch nur eine Schiffslänge weiter östlich gelegen hätte, selbst beim Nord-Kurse das Riff frei passirt haben. Er habe aber von der auf 8 Meilen beschränkten: Sichtweite des Feuers nichts gewusst und sei somit einem zweifachem lrrthume unterlegen, welcher die Strandung verursacht habe, für die er daher nicht verantwortlich gemacht werden könne.
Den ihm gemachten Vorwurf mangelhafter Journalführung, halte er für ungerechtfertigt. Eines Eintrags der Länge und Breite hätte es nämlich nicht bedurft, weil die Lage des Schiffes anderweitig bestimmt gewesen sei und die kleinen Kurse und Distanzen beim Laviren würden in der Praxis nie gebucht. Nach Artikel 487 des Handelsgesetzbuches endlich sollten die Eintragungen in das Journal von Tag zu Tag gemacht werden, brauchten also nur alle 24 Stunden zu geschehen, die „Fanchon“ aber sei, als sie gestrandet, erst 18 Stunden in See gewesen.
- Der Steuermann Voss.
Als er um 12 Uhr die Wache angetreten, habe ihm der Kapitän mitgetheilt, dass er das Feuer um 8 Uhr in 12 Meilen Abstand gepeilt habe und dessen Entfernung jetzt etwa 9 Meilen schätze. Er habe demnach an keine Gefahr denken können und die Brigg ruhig bis 1½ Uhr nach West über Steuerbord anliegen lassen. Da dann aber die See aus SO sehr gross geworden und er befürchtet habe, auch der Wind könne dorthin umspringen, wodurch die ohnehin durch die grosse See schon schwierige Lage des Schiffes eine gefährliche hätte werden können, so habe er sich entschlossen anstatt zu halsen, den Kurs nach Nord zu nehmen, um vor dem Winde das Riff frei zu passiren. Da das Loth 15 Faden Wasser ergeben, sei er fest überzeugt gewesen, dass er bei einem nördlichen Kurse das Riff, dessen Feuer er damals auf 7 Meilen Entfernung geschätzt habe, ohne alle Gefahr umsegeln könne. Die Abweichung von der ihm durch den Kapitän ertheilten lnstruktion habe er durch die Umstände für geboten erachtet, und sobald die Fock gesetzt gewesen, habe er sich auf den Weg gemacht, um den Kapitän von seinen veränderten Dispositionen zu benachrichtigen, als jedoch schon die Brigg durchgestossen habe.
Verursacht worden sei die Strandung lediglich durch die überschätzte Distanz vom Feuer und die ihm unbekannt gewesene südöstliche Strömung. Als er den Kurs nach Nord verändert, habe er das Feuer stets 2 bis 3 Kompass-Striche an Backbord gehabt. Er gebe zu, dass er sich bezüglich der Entfernung desselben und des Vorhandenseins der Strömung geirrt habe, aber er meine, dass dieser Irrthum ein vollauf entschuldbarer sei und dass er überall seine Schuldigkeit gethan habe.
In Bezug auf die Journalführung wolle er sich lediglich den Ausführungen des Kapitäns anschliessen.
- Anlangend nun die Beurtheilung des vorliegenden Materials, so nimmt zunächst das Seeamt als erwiesen an:
- dass in der Nacht vom 7./8. November 1878 die Luft dick war,
- dass damals in der See bei Domesnees eine Strömung aus SO lief,
- dass das Feuer auf der Nordspitze des Riffs nur eine Sichtweite von 8 Seemeilen und zwar bei klarer Luft hat,
- dass der Kapitän die Entfernung dieses Feuers Abends 8 Uhr auf 12 Meilen schätzte und
- dass dasselbe, als 1½ Uhr Nachts der Kurs nach Nord eingeschlagen war, etwa zwei Kompass-Striche an Backbord, also in NNW¼W gesehen wurde.
Denn die unter 1 bis 3 erwähnten Thatumstände sind ausdrücklich vom Kaiserlich deutschen Konsulat zu Windau bezeugt worden, zu 4 aber muss den bezüglichen Angaben des Kapitäns, da sie an sich nicht unglaubwürdig, mit der Notirung im Journal im Einklang stehen und durch die Untersuchung keine Zweifel an ihrer Wahrheit aufgekommen sind, voller Glaube beigemessen werden und zu 5 ein Gleiches von den betreffenden Angaben des Steuermanns gelten, welche durch die entgegenstehende Aussage des Zimmermanns Lange, weil dessen schwankendes und sich widersprechendes Zeugniss völlig werthlos ist, in ihrer Glaubwürdigkeit nicht haben beeinträchtigt werden können. Müssen aber die vorstehenden 5 Punkte für erwiesen gelten, so kann es kaum einem Zweifel unterliegen, dass die Ursache der Strandung, principaliter in
- dem Irrthum des Kapitäns und des Steuermanns über die Entfernung des Feuers bei Domesnees einerseits und
- die Strömung aus SO andererseits zu finden ist.
Anstatt 8 Uhr Abends, wie der Kapitän meinte, noch 12 Meilen vom Feuer abzustehen, war man in Wirklichkeit damals nur noch acht Meilen und um Mitternacht anstatt neun Meilen, wie man annahm, nur noch fünf Meilen von demselben entfernt. Daraus folgt, dass das etwa 1½ Knoten in der Stunde laufende Schiff, welches von Mitternacht an nach West anlag, als der Kurs nach Nord geändert wurde, dem Lande bereits ganz nahe war.
Dem steht auch nicht entgegen, dass kurz vor der Veränderung des Kurses noch 15 Faden gelothet wurden. Denn in der dem Seeamt vorliegenden Karte der nördlichen Ostsee von 1878 findet sich etwa 1½ Meilen östlich der Spitze von Kap Domesnees also unweit des Fusses des von dort auslaufenden Riff, eine Wassertiefe von 16 Faden verzeichnet. Gleichwohl würde die Brigg jedoch auch jetzt noch bei nördlichem Kurse das Riff glücklich passirt haben, dessen Feuer nach Ausweis der eben genannten Karte bei diesem Kurse stets einige Strich an Backbord-Seite blieb, wenn nicht die südöstliche Strömung gewesen wäre, welche sie mit Nothwendigkeit auf dasselbe hinauf treiben musste.
Fragt es sich nun, ob der lrrthum über die Entfernung des Feuers und die Nichtbeachtung der südöstlichen Strömung auf Seiten des Kapitäns und des Steuermanns entschuldbar sind, so muss diese Frage nach Ansicht des Seeamtes für den Steuermann unbedingt bejaht werden, während dies bei dem Kapitän nur bezüglich der Strömung geschehen kann. Der Steuermann verliess sich mit Recht hinsichtlich der Entfernung des Feuers auf die Schätzung des Kapitäns, welchem dessen Sichtweite Leuchtfeuerbuche bekannt sein musste und von der Strömung konnten beide aus dem Grunde nichts wahrnehmen, weil dieselbe nach NW, also ziemlich grade auf das Feuer zu verlief und das Schiff mithin nicht aus seiner Richtung auf dasselbe seitwärts abtrieb. Dem Kapitän aber hätte die bereits seit Jahren beschaffte Herstellung des provisorischen Feuerthurmes mit geringerer Sichtweite nicht unbekannt bleiben dürfen und wenn sein Leuchtfeuerbuch, welches angeblich noch die frühere Sichtweite von 12 Meilen enthielt, wie schon hieraus mit Nothwendigkeit erhellt, nicht neueren Datums war, so war es seine Pflicht, sich entweder ein neues Leuchtfeuerbuch anzuschaffen, oder sich in Riga nach den etwa mit dem Feuer vorgekommenen Veränderungen genau zu erkundigen, ehe er den dortigen Hafen verliess.
Das Verhalten von Kapitän und Mannschaft nach erfolgter Strandung war ein in jeder Beziehung tadelloses. Sie handelten vollkommen richtig, wenn sie sofort das Ruder Backbord legten, die Decksladung warfen, mehr Segel setzten und versuchten, das erleichterte Schiff mit dem kräftigen Winde aus SSW östlich von dem Riffe abzubringen, und nachdem ihnen dies nicht hatte gelingen wollen, war es eine nur zu billigende Maassregel, dass sie das Pumpen unterliessen, um das Stossen der Brigg durch das den Raum füllende Wasser abzuschwächen. Als zweckmässig endlich muss auch das Kappen der Masten bezeichnet werden, da dasselbe entschieden zum Zusammenhalten des Schiffkörpers beizutragen geeignet war.
- Wie aus dem unter VI Gesagten erhellt, schreibt das Seeamt den vorliegenden Seeunfall im wesentlichen Umständen zu, für welche zum Theil freilich der Kapitän, aber niemand der Mannschaft verantwortlich ist. Wenn der Reichskommissar eine hiervon abweichende Ansicht geltend gemacht und, indem er die Schuld an der Strandung direkt dem Steuermann und indirekt dem Kapitän beimisst, hierauf gestützt gegen Beide Patententziehung beantragt hat, so bedarf es einer eingehenden Prüfung der zur Motivirung dieses Antrags aufgestellten Gründe, welche unter V resümirt worden sind.
Was nun - Den Kapitän Voss betrifft, so kann
- das Seeamt der Auffassung nicht beitreten, als sei die Lage des Schiffes, wie sie sich der Besatzung desselben gleich nach 12 Uhr darstellte, eine so gefährliche gewesen, dass der Kapitän an Deck bleiben musste. Das Feuer von Domesnees war in Sicht, das Wetter nicht in bedenklichem Grade stürmisch und, wenn man von der Strömung absieht, Gefahr in keiner Weise vorhanden. Das Riff sollte nicht passirt werden, vielmehr wollte man nur beiliegen und mit wenig Segeln treiben, ein Verfahren, welches nur gut geheissen werden kann und für Vorsicht des Kapitäns zeugt. Unter diesen Umständen brauchte derselbe nicht zu befürchten, dass das Schiff dem Lande oder dem Riffe zu nahe kommen werde, und da er das Kommando in die Hände eines erfahrenen und bewährten Steuermanns gelegt hatte, so ist kein Grund ersichtlich, welcher ihn hätte abhalten sollen, zu Koje zu gehen. Auch daraus lässt sich ein ihm solcherhalb zu machender Vorwurf nicht begründen, dass er erst Tags zuvor den Hafen verlassen und mithin als noch junger, rüstiger Mann nicht habe ermüdet sein können. Denn, wie bekannt, nimmt das Ausklariren die Schiffer meistentheils sehr in Anspruch, und auch Kapitän Voss mochte so die Nacht vor der Reise wenig Ruhe gefunden haben.
Jedenfalls konnte er nicht wissen, was der ander Tag brachte und ob nicht dann seine ununterbrochene Anwesenheit an Deck erforderlich werde. Bei der nördlich von Domesnees erwartenden grossen See aus West lag jedenfalls die nahe, mit dem Holzschiff auf die südlich von Oesel befindlichen Gründe getrieben zu werden.
- Liegt, wie das Seeamt annimmt, darin, dass Kapitän Voss, in der Strandungsnacht zu Koje ging, keine Pflichtverletzung, so kann derselbe auch nicht für die bald darauf eingetretene Strandung verantwortlich gemacht werden, selbst wenn zugegeben werden mag, dass die letztere möglicher Weise durch seine Anwesenheit an Deck vermieden worden wäre. Dass bei der herrschenden Windrichtung die Strandung, sobald nur der eingeschlagene nördliche Kurs ein klein wenig östlich genommen wurde, vermeidlich war ist völlig zweifellos, aber sehr fraglich ist es, ob nicht auch der Kapitän Voss das sofortige Umsegeln des Riffs beschlossen und, weil er in dem gleichen Irrthum über die Entfernung des Feuers und das Vorhandensein der Strömung befangen war, den nördlichen Kurs ebenfalls für den richtigen gehalten hätte.
- Die von dem Reichskommissar gegen die Führung des Journals gemachten Ausstellungen muss das Seeamt insofern als berechtigte anerkennen, als sich den Vorschriften in Artikel 487 des Handelsgesetzbuches entgegen, die ermittelte Länge und Breite niemals und der Wasserstand bei den Pumpen, sowie die gehaltenen Kurse auf der letzten Reise nicht, oder doch nicht vollständig eingetragen finden. Dabei kommt jedoch entschuldigend in Betracht, dass Kapitän und Steuermann zu den Eintragungen, welche das Gesetz von Tag zu Tag, also nur alle 24 Stunden erfordert, nach Verfluss von erst 18 Stunden seit Beginn der Reise überhaupt noch nicht verpflichtet waren und sodann, dass dieselben erst am Lande, in der nothwendigen Erregung unmittelbar nach einer mit dem Verlust des Schiffes verbundenen Strandung, beschafft wurden. Den unzutreffenden Eintrag vom 7. November, Nachmittags 3 Uhr, „peilten Messa-Feuerthurm SW in 15 M. Abstand“, hält das Seeamt als auf einem blossen Schreibfehler beruhend, für unbeachtlich. Anlagend sodann
- den Steuermann Voss, so muss zunächst
- vom Seeamte als richtig anerkannt werden, dass derselbe durch den von ihm eingeschlagenen nördlichen Kurs die Strandung unmittelbar veranlasst hat. Denn wäre er nach der ihm ertheilten Instruktion einfach auf einen anderen Bug gegangen oder hätte er anstatt nach Nord den Kurs nur nach NNO genommen, so wurde dieselbe unbedingt vermieden. Allein, wie schon vorstehend dargethan worden, wurde dieser nördliche Kurs nur deshalb dem Schiffe verderblich, weil dasselbe in Folge der Strömung bereits dicht am Lande stand, und der Steuermann von der letzteren nichts wusste und wissen konnte, so kann er weder für die zu grosse Annäherung an das Land, noch für die als nothwendige Folge derselben zu betrachtende demnächstige Strandung verantwortlich gemacht werden.
- Der Kapitän hatte dem Steuermann nicht ausdrücklich untersagt, Nachts das Riff zu umsegeln, sondern er hatte ihn nur dahin instruirt, dass er Kap Domesnees erst mit Tagesanbruch passiren wolle, er, der Steuermann, also die Nacht über in bisheriger Weise beizuliegen habe. Im Uebrigen hatte er ihm völlig freie Hand gelassen, nach seinem, Ermessen von einem Bug über den andern zu gehen, und wenn sich nun der Steuermann, durch die Umstände gedrängt und in der Absicht, eine drohende Gefahr von dem zur Zeit unter seinem Kommando stehenden Schiffe abzuwenden, bewogen fand, von der ihm ertheilten Instruktion abzuweichen und auf eigne Verantwortung alsogleich um das Kap herum zu gehen, so wird ihm hieraus um so weniger ein Vorwurf zu machen sein, als man überall bei engen Gewässern einem Steuermann, wenn ihm das Kommando übergeben wird den einzuhaltenden Kurs nicht so strenge vorschreiben kann, als wie dies auf grossen Gewässern thunlich ist.
Dagegen hätte allerdings der Steuermann, als er den Kurs nach Nord geändert hatte, hiervon sofort den Kapitän benachrichtigen und damit nicht warten sollen, bis die Fock beigesetzt war. Es wäre dies entschieden seine Pflicht gewesen, und wenngleich vielleicht, ja wahrscheinlich der Kapitän in demselben Irrthum bezüglich des Standortes der Brigg befangen wie der Steuermann, lediglich dessen Anordnungen gebilligt haben und gar nicht an Deck gekommen sein würde, so ist doch auch das Gegentheil nicht ausgeschlossen und muss mindestens als möglich zugegeben werden, dass der Kapitän veränderte Anordnungen treffen und dadurch der Strandung vorbeugen konnte. Jedenfalls ist kein Umstand ersichtlich, welcher den Steuermann an der sofortigen Benachrichtigung des Kapitäns hinderte, und so muss die Unterlassung dieser sofortigen Benachrichtigung als eine Pflichtwidrigkeit bezeichnet werden.
- Ueber die eigentliche Ursache der Strandung ist, wie oben ausgeführt worden, das Seeamt anderer Ansicht als der Reichskommissar, indem dieser sie vorwiegend in der mangelhaften Beobachtung des Feuers seitens des Steuermanns finden will, während das Seeamt als solche wesentlich die südöstliche Strömung bezeichnen zu sollen glaubt. Diese Strömung musste in der Nähe des Riffs besonders stark wirken, weil sich dort das Strömungsgebiet einengte, und da sie die nach Nord anliegende Brigg von der Seite erfasste, so musste sie dieselbe mit Nothwendigkeit auf das Riff hinauf treiben, auch wenn das Feuer, wie der Steuermann versichert, als der Kurs nach Nord genommen war stets einige Kompass-Striche an der Backbord-Seite blieb. Dass in letzterer Beziehung die Angabe des Steuermanns als wahrheitsgemäss anzunehmen und das mit ihr in Widerspruch stehende Zeugniss des Zimmermanns Lange ganz unbeachtlich ist, wurde bereits früher dargelegt.
- Was bezüglich der mangelhaften Journalisirung unter 1 c beim Kapitän rügend und bezw. entschuldigend hervorgehoben ist, findet seine volle Anwendung selbstverständlich auch auf den Steuermamn.
- Wenn nach den Ausführungen unter VII lediglich zur Last fällt:
- Dem Kapitän
- dass er eine veraltete Karte benutzte, aus welcher die Lage und die Ausdehnung des Riffes bei Kap Domesnees nicht genau genug zu ersehen. war,
- dass er die Entfernung des Feuers bei Demesnees lediglich nach einem, mindestens schon über zwei Jahre alten und für Kap Domesnees nicht mehr zutreffenden Leuchtfeuerbuche bestimmte und diese Bestimmung seinem Besteck grundleglich machte, ohne sich vorher erkundigt zu haben, ob das in demselben Verzeichnete auch noch mit der Wirklichkeit übereinstimme,
- dass die Führung des Schiffsjournals keine den gesetzlichen Anforderungen vollkommen entsprechende war;
- dem Steuermann,
- dass er den Kapitän nicht sofort von dem nach Nord veränderten Kurse in Kenntniss setzte,
- dass er das Schiffsjournal nicht vorschriftsmässig führte, so ist schliesslich darüber zu entscheiden, ob auf diese Verfehlungen hin gegen beide oder doch gegen einen von ihnen die Bestimmungen in § 26 des Seeunfall-Gesetzes zur Anwendung zu bringen sind und ihnen bezw. einem von ihnen dem Antrage des Reichskommissars gemäss die Befugniss zur Ausübung des Schiffer- bezw. Steuermannsgewerbes zu entziehen ist.
Erwägt man nun, dass beide, der Kapitän sowohl wie der Steuermann, sich bisher als tüchtig und zuverlässig in ihrem Berufe erwiesen haben, dass auf Seiten des Kapitäns in der Benutzung einer unzulänglichen Karte, sowie in, dem Mangel gehöriger Information über das Feuer bei Domesnees, auch wenn sie zur Herbeiführung des Unfalles mitgewirkt haben mögen, auf Seiten des Steuermanns in der unterlassenen sofortigen Benachrichtigung des Kapitäns mindestens keine groben Pflichtverletzungen zu erfinden sind und endlich, dass man aus den in Rede stehenden einzelnen Vorkommenheiten bei keinem von beiden auf einen dauernden Mangel solcher Eigenschaften zu schliessen berechtigt ist, welche zur Ausübung des Schiffer- bezw. des Steuermannsgewerbes erforderlich sind, so kann die Entscheidung nur verneinend ausfallen.
Wenn das Seeamt daher den gegen Kapitän und Steuermann gerichteten Antrag des Reichskommissars auf Patententziehung ablehnen zu sollen gemeint hat, so hat es dagegen in seinem Spruche den Pflichtwidrigkeiten, deren sieh beide schuldig gemacht haben, besondere Erwähnung gethan, und es glaubt, dass dieselben hiermit ausreichend geahndet sind.
Auf die Beschwerde des Reichskommissars gegen den vorstehenden Spruch hat das Kaiserliche Oberseeamt in seiner zu Berlin am 10. Juli 1879 abgehaltenen Sitzung entschieden:
Dass der Spruch des Grossherzoglich mecklenburg-schwerinschen Seeamts vom 4. April 1879 lediglich zu bestätigen und die baaren Auslagen des Verfahrens ausser Ansatz zu lassen.
Gründe.
Die Beschwerde legt dem Schiffer Voss Mangel an Sorgfalt, dem Steuermann Voss pflichtwidriges Verhalten zur Last und hält gegen beide den Antrag auf Entziehung der Gewerbebefugniss aufrecht. Sie macht.
- dem Schiffer zum Vorwurf,
- dass er vor Antritt der letzten Reise sich mit genügend Seekarten zu versehen verabsäumt und eine unzulängliche Karte benutzt habe. Der Schiffer hat sich auf der letzten Reise bei Bestimmung seiner Kurse nach einer Ostseekarte vom Jahre 1869 gerichtet. Auf der letzteren ist das Riff an der Nordspitze des Kap Domesnees an welcher die „Fanchon“ strandete, in sicherförmiger Gestalt und mit einer durchschnittlichen Breite von etwa ½ Meile dargestellt. Diese Darstellung entspricht nicht genau der Wirklichkeit; wie das Seeamt zutreffend festgestellt hat, ist das Riff erheblich breiter und nach Osten hin etwa 1 Meile weiter vorgestreckt, als die erwähnte Karte von 1869 erkennen lässt. Diese wirkliche Lage und Ausdehnung des Riffs ist, wie das Seeamt ferner festgestellt hat, auf einer schwedischen Karte nördlichen Ostsee mit dem Rigaer Meerbusen vom Jahre 1878 genau dargestellt.
Das Seeamt macht deshalb den Schiffer dafür verantwortlich, dass er trotz des Vorhandenseins einer solchen berichtigten Karte die mangelhaftere Karte von 1869 benutzt habe. Ein gewichtigter Vorwurf lässt sich indessen gegen den Schiffer hierauf nicht gründen. Als er seine letzte Reise antrat, war die im Jahre 1878 erschienene Karte jedenfalls noch so neu, dass er von ihrem Vorhandensein kaum Kenntnis haben konnte, und da er in früherer Zeit wiederholt mit Hülfe der Karte von 1869 das Riff bei Domesnees glücklich umschifft hatte, so lag für ihn kein Anlass zu der Vermuthung vor, dass diese Karte einen Fehler enthalte und deshalb durch eine andere zu ersetzen sei. Ein Mangel an Vorsicht kann unter diesen Umständen in der Benutzung der Karte von 1869 nicht gefunden werden.
- Wie das Seeamt zutreffend festgestellt, hat der Schiffer am 7. November 1878, Abends 8 Uhr, als er das auf der Nordspitze des Riffs befindliche Leuchtfeuer zuerst in Sicht bekam, dessen Entfernung nach seinem Leuchtfeuerbuche auf 12 Meilen angenommen, während jenes Feuer in Wirklichkeit selbst bei klarer Luft nur 8 Meilen weit sichtbar ist, und jene unrichtige Annahme hat insofern zur Strandung der „Fanchon“ beigetragen, als sie den Schiffer mehr zu nähern, als es mit der Sicherheit des letzteren verträglich war. Die Beschwerde rügt, dass der Schiffer unterlassen habe, sich während seines Aufenthalts in Riga nach Sichtweite und der sonstigen Beschaffenheit jenes Feuers zu erkundigen, und dass von ihm ein veraltetes Werk über Leuchtfeuer noch als maassgebend angesehen worden sei. Allein auch in dieser Hinsicht lässt sich gegen den Schiffer der Vorwurf einer Pflichtverletzung nicht erheben.
Das Leuchtfeuerbuch, welches er benutzte, war zur Zeit des Unfalles erst zwei Jahre alt. Mit Hülfe desselben hatte er wiederholt ungefährdet die Fahrt um das Kap Domesnees gemacht; es lag also nach seinen bisherigen Erfahrungen für ihn kein Grund vor, an der Richtigkeit der Angaben des gedachten Buches zu zweifeln, und ohne einen solchen Zweifelsgrund hatte er gar keine Veranlassung, während seines Aufenthalts in Riga über die Beschaffenheit des Leuchtfeuers auf dem Riff Erkundigungen einzuziehen.
- Das Seeamt hat festgestellt, dass im Journal der „Fanchon“ für deren letzte Reise die ermittelte Länge und Breite niemals, und der Wasserstand bei den Pumpen, sowie die gehaltenen Kurse nicht vollständig eingetragen sind. Die Beschwerde, welche in dieser mangelhaften Eintragung mit Recht ein Verstoss gegen die Vorschrift des Handelsgesetzbuches Art. 487 findet, hebt ausserdem hervor, dass das Journal nicht unterschrieben sei, und in der That entbehrt dasselbe der Unterschrift sowohl des Schiffers und des Steuermanns. Auch dieser Mangel schliesst eine Verfehlung gegen eine ausdrückliche Bestimmung des Art. 487 in sich. Dabei lässt sich die Auffassung des Seeamts, dass dem Schiffer und dem Steuermann hinsichtlich der ungenügenden Journalführung entschuldigende Momente zur Seite stehen, nicht aufrecht halten.
Das Seeamt nimmt nämlich an, dass der Schiffer und der Steuermann zu den Eintragungen, welche das Handelsgesetzbuch von Tag zu Tag fordert, nur alle 24 Stunden verpflichtet gewesen zu seien, dass mithin, da die „Fanchon“ schon 18 Stunden nach Antritt der Reise strandete, eine Verpflichtung zur Eintragung für die gedachte Personen noch nicht bestanden haben; dazu komme, dass die im Journal über die letzte Reise enthaltene Vermerke erst am Lande in der nothwendigen Erregung unmittelbar nach einer mit dem Verlust des Schiffs verbundenen Strandung gemacht worden seien. Das Handelsgesetzbuch versteht jedoch unter einem Tage nicht einen Zeitraum von 24 Stunden, dessen Anfangspunkt in jedem einzelnen Falle durch ein gewisses Ereigniss besonders bestimmt wird, sondern, wie Art. 571, 834 a. a. O. ergeben, den von Mitternacht zu Mitternacht gerechneten Kalendertag. Die „Fanchon“ hat, wie das Journal ergiebt, den Hafen von Riga am 7. November 1878, also am Tage vor der Strandung, um 8 Uhr Morgens verlassen. Im Laufe dieses Tages sind Umstände, welche das Eintragen der vorgeschriebenen Vermerke in das Journal hätten hindern können, nicht eingetreten.
Dieselben hätten also an diesem Tage, wenigstens für den grösseren Theil desselben, ordnugsmässig eingetragen werden müssen. Der Umstand aber, dass die Eintragungen nach der Strandung am Lande nachgeholt worden sind, kann keinesfalls den Mangel der Unterschriften des Schiffers und des Steuermanns entschuldigen; denn diese waren zur Beglaubigung der Eintragungen ganz unerlässlich.
- Die Beschwerde legt dem Schiffer zur Last, dass er in der Nacht vom 7. zum 8. November 1878 um 12½ Uhr das Deck verlassen und sich zu Koje begeben hat, obwohl das Wetter stürmisch und die Luft zeitweise bedeckt war und das Schiff ein gefährliches weit vorspringendes Riff vor sich hatte. Der Umstand, dass der Schiffer zur angegebenen Zeit sich zur Ruhe begeben und die Führung des Schiffes dem Steuermann überlassen hat, würde ihm mit Recht zum Vorwurf zu machen sein, wenn er Anlass gehabt hätte, damals die Lage des Schiffs für eine gefährdete zu halten. Nach seiner Seekarte und seinem Leuchtfeuerbuch aber hatte er keinen Grund zu einer solchen Annahme.
Die Angaben, welche er aus diesen Hülfsmitteln entnehmen konnte, mussten ihn zu der Auffassung führen, dass er sich in einer jede Gefahr ausschliesenden Entfernung vom Riff befinde, und die von ihm bei dem Verlassen des Decks dem Steuermann ertheilte Weisung, während des übrigen Theiles der Nacht beizuliegen und mit wenig Segeln zu treiben, war bei sorgsamer Ausführung geeignet, das Schiff vor jedem Schaden zu bewahren. Dem Schiffer stand dann für den folgenden Morgen die Fahrt um das Riff und in den westlich des letzteren belegenen Theil der See bevor, auf welcher er sich pflichtmässig der persönlichen Führung des Schiffs nicht entziehen durfte, sollte er sich aber dieser Aufgabe mit der erforderlichen Kraft und Frische widmen, so bedurfte er während der Nacht des Schlafes. Dass er diesen zu der erwähnten Zeit suchte, war unter den gegebenen Verhältnissen gerechtfertigt und nicht zu tadeln.
- Die Beschwerde nimmt an, dass der Schiffer, als er in derselben Nacht um 12 Uhr sowohl das Leuchtfeuer an der Nordspitze des Riffs, als auch die hohen Bäume auf der Landspitze von Domesnees wahrnehmen konnte, sich durch eine Kreuzpeilung über die wahre Lage des Schiffs hätte orientiren und dadurch der bevorstehenden Strandung ausweichen können. Die Gelegenheit hierzu würde sich vielleicht bei klarer Luft geboten haben; da jedoch die Beschwerde selbst anerkennt, dass zu jener Zeit die Luft bedeckt war, so erscheint die Versicherung des Schiffers, dass er jene Bäume nur in unbestimmten Umrissen gesehen habe, durchaus glaubhaft. Bei diesem Sachverhalt fehlte, es an einem festen Anhalt für die Vornahme einer Kreuzpeilung; es kann mithin deren Unterlassung dem Schiffer nicht angerechnet werden.
- Gegen den Steuermann richtet sich die Beschwerde,
- weil er, nachdem sich der Schiffer zur Ruhe begeben, in der Besorgniss, dass das Schiff von der südöstlichen Strömung auf das Riff getrieben werden könne, eigenmächtig, um das Riff zu umschiffen, den Kurs nach Norden gewendet und dadurch die Strandung veranlasst habe.
Nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme ist anzunehmen, dass der Schiffer, so lange er auf Deck war, die südöstliche Strömung nicht gewahr werden und deshalb auch nicht in Rechnung ziehen konnte, sowie dass diese Strömung, wenn der Steuermann der vorhin erwähnten Weisung des Schiffers genau gefolgt wäre, das Schiff auf das Riff geführt hätte. Als der Steuermann während seiner Wache dies erkannte, handelte er darin ganz richtig, dass er es unternahm, noch in der Nacht das Riff zu umschiffen. Denn nur so konnte er hoffen, der drohenden Gefahr zu entgehen.
Gefehlt hat er nur darin, dass er zur Umschiffung des Riffs, den. Kurs nach Norden nahm, statt ihn, wie das Seeamt zutreffend ausführt, etwas nach Osten zu nehmen. An diesem Irrthum aber welcher das Schiff zur Strandung führte, trägt nicht er, sondern die auf demselben benutzte Seekarte die Schuld. Hätte das Riff die auf der letzteren angegebene Ausdehnung gehabt, so würde der nördliche Kurs das Schiff aus dem Bereich der Gefahr gebracht haben; dass die Karte an dieser Stelle eine Unrichtigkeit enthielt, konnte der Steuermann nicht wissen und hat er nicht zu verantworten.
- Die Beschwerde findet in jener Veränderung des Kurses eine schwere Pflichtwidrigkeit, weil sie gegen einen ausdrücklichen Befehl des Schiffers geschehen sei.
Auch diesem Vorwurf ist nicht beizutreten. Der Steuermann ist erheblich älter und weit befahrener als der Schiffer und namentlich mit dem Theile der See, in welchem sich der Unfall ereignete, wohl bekannt. Seine Erfahrung befähigte ihn also vollständig zu beurtheilen, in wie weit die ihm vom Schiffer gegebene Weisung den Umständen entsprach und mit der Sicherheit des Schiffs vereinbar war. Als er die südöstliche Strömung und deren Gewalt wahrnahm, erkannte er ganz richtig, dass er jener Weisung nicht weiter folgen dürfe, ohne das Schiff dem Untergange Preis zu geben. Gleichwohl würde er sich eines Ungehorsams durch die Aenderung des Kurses schuldig gemacht haben, wenn er hätte annehmen können, dass der Schiffer mit dieser Massnahme nicht ein verstanden sein würde.
Dessen Einverständniss aber durfte er voraussetzen; denn nach der eigenen bei der Verhandlung in zweiter Instanz abgegebenen Erklärung des Schiffers, an deren Wahrheit zu zweifeln kein Grund vorliegt, hatte dieser, hatte dieser schon auf einer früheren Reise den Steuermann für die Zeit der von dem letzteren zu übernehmenden Wachen allgemein ermächtigt, in der Führung des Schiffs ganz nach eigenem Ermessen zu handeln. Dieser Vorgang reinigt den Steuermann von der Beschuldigung eigenmächtiger Pflichtwidrigkeit.
- Die Beschwerde findet eine fernere Pflichtverletzung des Steuermanns darin, dass derselbe nach erfolgter Aenderung des Kurses den Schiffer nicht sofort davon in Kenntniss gesetzt hat.
Die Aenderung des Kurses machte eine Reihe von Operationen, insbesondere das Beisetzen des Focksegels, erforderlich, welche eine längere Zeit in Anspruch nehmen. Während derselben konnte sich der Steuermann nicht von Deck entfernen, da er ihre Ausführung überwachen musste. Unmittelbar darauf erfolgte die Strandung, bei welcher der Schiffer erwachte und auf das Deck eilte. Nach seiner in der Hauptverhandlung zweiter Instanz abgegebenen glaubhaften Erklärung ist damals der Steuermann gerade auf dem Wege gewesen, sich zu ihm zu begeben, um ihm die Aenderung des Kurses mitzutheilen. Unter diesen Umständen kann dem Steuermann die Versäumung einer Meldung von dem veränderten Kurse nicht zur Last gelegt werden.
- Die Beschwerde führt aus, der Steuermann habe während seiner letzten Wache das Domesnees-Feuer meistens sehen können; dasselbe sei, während das Schiff nach Westen angelegen, auf der Steuerbord-Seite immer weiter nach Norden herumgegangen; diese Beobachtung, ebenso wie die bereits zwischen 12 Uhr und 1 Uhr Nachts wahrgenommene kurze hohe See aus Südost, hätte den Steuermann auf die Nähe des Riffs und die Strömung aus Südost rechtzeitig aufmerksam machen müssen.
Der Tadel des Verhaltens des Steuermannes, welcher hierin Ausdruck findet, wäre gerechtfertigt, wenn sich eine die wirkliche Ausdehnung des Riffs genau darstellende Seekarte an Bord befunden hätte. An der Hand der oben erwähnten Karte von 1869 aber konnte der Steuermann nicht früher, als geschehen, auf die dem Schiffe drohende Gefahr aufmerksam werden. Es lässt sich mithin auch bei diesem Punkte ihm eine schuldbare Versäumung nicht vorwerfen.
- Für die Mängel der Journalführung trifft den Steuermann aus den oben unter I 3 entwickelten Gründen dieselbe Verantwortlichkeit wie den Schiffer.
Die in Betreff des Journals begangene Pflichtwidrigkeien des Schiffers und des Steuermanns stehen aber mit dem Seeunfall, welcher die „Fanchon“ erlitten hat, in keinerlei ursächlichem Zusammenhang und im Uebrigen fallen weder dem Schiffer noch dem Steuermann Handlungen oder Unterlassungen zur Last, aus welchen auf einen Mangel an den zur Ausübung ihres Gewerbes erforderlichen Eigenschaften zu schliessen wäre. Es kann somit weder dem Schiffer noch dem Steuermann auf Grund des § 26 des Reichsgesetzes vom 27. Juli 1877 die Gewerbebefugniss entzogen werden.
Die baaren Auslagen des Verfahrens bleiben ausser Ansatz, weil die Beschwerde vom Reichskommisar eingelegt ist.