Seeunfall der Bark „Charlotte Lange"
Spruch des Seeamts zu Rostock vom 25. März 1888, betreffend den Seeunfall der Bark „Charlotte Lange“ von Rostock.
Der Spruch des Seeamts lautet:
Der Verlust der Bark „Charlotte Lange“, welche auf ihrer Reise von New-York nach Coruña am 11. März 1888 in sinkendem Zustande von ihrer Besatzung verlassen wurde, ist durch lange anhaltende Stürme, hohe See und dicke Luft verursacht, und wird weder dem Schiffer Zeplin noch jemandem von der Mannschaft zur Schuld angerechnet. Das menschenfreundliche Verhalten des Schiffers Guillo von dem französischen Schooner „Antares“, welcher die Besatzung der Bark abnahm, sowie des Marine-Commissars zu Brest, welcher der Manschaft dort nicht nur ein Unterkommen verschaffte, sondern ihr auch die erforderlichen Geldmittel zur Erreichung des nächsten deutschen Consulats vorstreckte, verdient hohe Anerkennung.
Gründe.
- In der stattgehabten Hauptverhandlung ist auf Grund der Registerakten, des Schiffsjournals, der Verklarung d. d. Brest 16. März 1888, der vom Seeamt erforderten schriftlichen Erklärungen der Schiffsbaumeister Vinoelst und Petersen zu Antwerpen und der Experten des Büreau Veritas zu Rostock und Königsberg sowie der Aussagen des Schiffers Friedrich Zeplin aus Wustrow folgendes thatsächlich festgestellt:
- Am 31. Dezember 1887 verließ die in Rostock beheimathete, vom Schiffer Zeplin geführte, mit 9 Personen einschließlich des geprüften Steuermanns W. Ahrens aus Althagen auf Fischland bemannte und mit allem für die Reise Erforderlichen gut ausgerüstete Bark, „Charlotte Lange“, Unterscheidungssignal MCWN, vermessen zu einem Netto-Raumgehalt von 1151,4 cbm = 406,41 britischen Register-Tons, New-York, um mit einer Ladung Naphtha (ungereinigtes Petroleum) nach Coruña in Spanien zu segeln. Das Naphtha befand sich in Blechdosen, welche in hölzerne Kisten verladen waren. Die letzteren waren sämmtlich im Raume verstaut, welchen sie fast ganz ausfüllten.
Schon am 1. Januar 1888 begann es aus Süden und SSO zu stürmen und die Bark mußte stark mit Segeln gepreßt werden, um sie von der Küste frei zu halten. Der Schiffer würde, wie er versichert, nach New-York zurückgekehrt sein, wenn nicht die Luft dick von Schnee und Regen gewesen wäre. Aus letzterem Grunde setzte er die Reise fort, und da das Wetter stürmisch, blieb und sich eine sehr hohe See entwickelte, so fing die schwer arbeitende Bark bald an, Wasser zu machen, und mußte ein Theil der Mannschaft fast beständig an den Pumpen stehen. Eine Windmühlenpumpe war nicht vorhanden.
Am 16. Januar herrschte ein derartiger Sturm aus WSW, daß die Bark beigedreht werden mußte, und da dieselbe in der wild durcheinanderlaufenden See fort arbeitete, ließ der Schiffer 200 Kisten Petroleum aus den Vorderluken werfen, um das Schiff mit dem Bug höher aus dem Wasser herauszubringen. Am folgenden Tage flaute der Wind ab, und das Wetter blieb bis zum Ende des Monats im Allgemeinen gut, aber der Leck verminderte sich gleichwohl nicht, und eine der Pumpen mußte ununterbrochen energisch bedient werden, um das Schiff lenz zu halten. Auch im Februar und März hatte das Schiff wiederholt schwere Stürme zu bestehen, wobei die Pumpen viel Oel auswarfen. Am 7. März kam Nachmittags 2 Uhr die spanische Küste in Sicht und wurde Abends 8 Uhr Villano-Feuerthurm in SO etwa 10 Seemeilen ab gepeilt.
An den folgenden Tagen stürmte es aus SW und WSW mit einer sehr hohen See, und jetzt nahm das Wasser im Raum merklich zu. Am Mittage des 10. März befand sich das Schiff nach Besteck auf 44° 35′ Nordbreite und 9° 23′ Westlänge. Am 11. März herrschte Morgens und Vormittags ein Sturm aus Westen. Die Bark lag mit NNW- und NzWCurs bei ungefähr 6 Strich Abtrift am Winde. Von Morgens 7 Uhr an arbeitete die ganze Mannschaft an den Pumpen, während der Schiffer am Ruder stand. Morgens 8 Uhr wurde gehalst und SSW gesteuert, unter Annahme einer Abtrift von 5 Strich.
Als gegen 9 Uhr ein nordwärts steuernder Dampfer in Sicht kam, erklärte die Mannschaft, daß ihre Kräfte erschöpft seien, und sie nicht länger pumpen könne. Der Schiffer ließ daher Nothsignale setzen. Der Dampfer beachtete dieselben jedoch nicht und war Vormittags 10 Uhr am Horizonte verschwunden. Damals war die Bark bereits der Bai von Biscaja nahe und ungefähr 90 Seemeilen von dem nächsten Lande entfernt. Eine Peilung der Pumpen ergab einen Wasserstand von 33 Zoll im Raum. Bald nachher tauchte ein Segelschiff auf, welches, die Nothsignale der Bark bemerkend, auf dieselbe abhielt. Es war dies der in Nantes beheimathete, auf der Reise von Ayamont nach Hamburg begriffene französische Schooner „Antares“, Schiffer Guillo. Derselbe kam auf Rufweite heran und erklärte der französische Schiffsführer sich sofort bereit, die Schiffbrüchigen aufzunehmen, welchen es dann auch Mittags bei etwas ruhiger gewordener See glücklich gelang, ihr großes Boot auszusetzen und sich in demselben mit den Schiffspapieren, dem Chronometer und einem Theil ihrer Effecten an Bord des, „Antares“ zu retten.
Als sie die Bark verließen, stand das Wasser in deren Raum bereits 5 Fuß hoch. Es war in der letzten Stunde um 14 Zoll gestiegen. An Bord des „Antares“, welcher alsbald seine Reise fortsetzte, erfuhr die Besatzung der Bark die liebevollste Aufnahme. Schiffer Guillo räumte dem deutschen Schiffer und dem Steuermann seine eigene Kajüte zur Mitbenutzung ein, bereitete der übrigen Mannschaft in einem kleinen Deckhause, aus welchem er den dort lagernden Proviant entfernen ließ, ein Unterkommen, und theilte alles, was er an Lebensmitteln besaß, mit den Schiffbrüchigen. Am 14. März landete er dieselben in Camaret.
Als Schiffer Zeplin ihn um Angabe des Betrages bat, welchen er ihm für seine und seiner Leute Aufnahme und Verpflegung schulde und welchen er sofort nach seiner Heimkehr durch seine Rhederei an ihn einzahlen lassen werde, lehnte Schiffer Guillo jede Vergütung mit dem Bemerken ab, daß er als Eigenthümer seines Schiffes auf keine Rheder Rücksicht zu nehmen habe, und blieb hierbei aller weiteren dringenden Bitten des Schiffers Zeplin ungeachtet. Von Camaret aus begab sich der Letztere mit seinen Leuten nach Brest, wo er ein deutsches Consulat vermuthete. Da ein solches nicht vorhanden war und seine ganze Baarschaft aus nur 30 bis 40 M. bestand, welche für seine und seiner Leute Weiterbeförderung nach Havre, dem nächsten auf seiner Route belegenen Sitz eines deutschen Consulates, nicht ausreichten, so wandte er sich hülfesuchend an den Kaiserlich österreichischen Consul. Dieser erklärte jedoch, daß er ihm die erforderlichen Geldmittel nicht ohne zuvorige Genehmigung des österreichischen Gesandten in Paris gewähren dürfe, letztere aber frühestens in 6 Tagen würde eintreffen können, und führte ihn zu dem Marine Commissar, welcher sich seiner freundlichst annahm, ihm und seinen Leuten ein Unterkommen verschaffte und ihm 492 frcs. vorstreckte, um mit seinen Leuten nach Havre gelangen zu können. Letztere Summe ist dem Marine Commissar durch das deutsche Consulat zu Hâvre demnächst erstattet.
- Die Bark „Charlotte Lange“ ist in den Jahren 1873/74 zu Rostock aus Eichenholz erbaut und seitdem vom Schiffer Friedrich Zeplin geführt worden, welcher zur Zeit des Unfalls mit ¹²³⁄₃₆₀ an derselben als Rheder betheiligt und mit seinen Parten zu etwa 18000 M. versichert war. In Antwerpen ist die Bark im Jahre 1884 auf der Werft der Schiffsbaumeister Vinoelst und Petersen vom Kiel bis zum Deck kalfatert, auch sonst nach Bedarf reparirt und unter Wasser neu gekupfert worden. Sie hat dann beim Büreau Veritas die Klasse ³⁄₃ A. 1. 1. bis 1889 erhalten. Im August 1887 hat der Königsberger Expert des Büreau Veritas das Schiff zwecks Bestätigung der Klasse untersucht und in durchaus seetüchtigem Zustande befunden. Auf ihrer vorletzten Reise von Königsberg nach New-York mit Lumpen, welche die Bark am 10. September 1887 antrat, hat sie sich Inhalts des Schiffsjournals trotz mehrfach stürmischen Wetters stets dicht gehalten.
- Der gleich zu Anfang der Reise auftretende Leck ist nach Ansicht des Seeamts dadurch entstanden, daß die Bark, um sie von der amerikanischen Küste freizuhalten, stark mit Segeln gepreßt werden mußte. In dem fast ununterbrochenen Kampfe des Schiffes mit Sturm und hoher See erweiterte sich derselbe im ferneren Verlaufe der Reise mehr und mehr und zwang die Besatzung, eine der Pumpen fast beständig im Gange zu halten. So gelangte die Bark in leckem Zustande und mit einer nahezu erschöpften Mannschaft in Sicht der spanischen Küste. Bei der dicken Luft und dem aus Westen und NW wehenden Sturme war ein direktes Ansteuern von Coruña nicht möglich, ohne das Schiff in die höchste Gefahr zu bringen, und so blieb dem Schiffer nichts übrig als Nachts über beizuliegen und am Tage in vorsichtiger Weise eine Annäherung an den Bestimmungshafen zu versuchen, wie dies seinerseits geschehen ist. Wahrscheinlich würde dann auch die Bark glücklich Coruña erreicht haben, wenn nicht am 11. März die Kräfte der Mannschaft völlig auf die Neige gegangen wären, worauf das Wasser im Raum schnell zunahm, und ein baldiges Sinken des Schiffes vorauszusehen war.
Wenn unter solchen Umständen die Besatzung die Bark verließ, so war dies durchaus gerechtfertigt. Nach den Feststellungen in Punkt I unter 2 muß angenommen werden, daß sich die Bark bei Antritt ihrer letzten Reise in seetüchtigem Zustande befunden hat. Wenn auch in letzterer Beziehung das Auftreten des Lecks gleich in den ersten Tagen der Reise zu Zweifeln berechtigt, so fällt doch andererseits in das Gewicht, daß die Bark 1884 kalfatert, bei Veritas klassifizirt und erst im August 1887 in Königsberg untersucht und für voll seetüchtig befunden war. Besonders aber spricht für deren Seetüchtigkeit beim Abgang aus New-York die Thatsache, daß die Bark fast 8 Wochen lang einen schweren Kampf mit Sturm und See zu bestehen vermochte. Nach obigen Ausführungen waren als Ursachen des vorliegenden Unfalls die im Spruche aufgeführten elementaren Ereignisse zu bezeichnen, und konnte weder dem Schiffer noch jemandem von der Mannschaft ein Verschulden an dem Verlust der Bark zur Last gelegt werden. Das hochherzige und selbstlose Verhalten des Schiffers Guillo von dem Schooner „Antares“ und das menschenfreundliche Benehmen des Marine-Commissars zu Brest verdienen nach Ansicht des Seeamts hohe Anerkennung, umsomehr, als die Hülfe, um welche es sich handelt, von französischen Staatsangehörigen einer deutschen Schiffsbesatzung geleistet wurde.